Ein Reifenwechsel pro Rennen ist für jeden DTM-Fahrer Pflicht. Im extrem engen Wettbewerb der Rennserie ist der Tausch der vier Räder ein ganz entscheidender Moment. Jeder Schritt, jeder Griff muss perfekt passen. Und wird deshalb täglich trainiert.

Motorsport ist Mannschaftssport. Diesem Grundgedanken folgend ist in jedem Rennen der DTM pro Fahrer mindestens ein Boxenstopp Pflicht. Dabei müssen alle vier Räder seines Autos gewechselt werden. 

Neben dem Fahrer und dem für sein Auto verantwortlichen Ingenieur (Renningenieur) sind neun weitere Teammitglieder entscheidend. Das sind im Einzelnen: ein „Lanzer“, je ein „Schrauber“ und je ein „Stecker“ für linke und rechte Fahrzeugseite sowie je ein „Fänger“ pro Rad, wie diese Mechaniker in der Fachsprache genannt werden. Außer diesen neun Personen darf niemand während des vorgeschriebenen Rädertauschs am Auto arbeiten.

Und so läuft der Stopp ab: Mit den maximal in der Boxengasse erlaubten 50 km/h rollt der Fahrer auf der Fast Lane (schnelle Spur) Richtung eigene Box. Den Befehl zum Reinkommen hat ihm in der laufenden Runde sein Team per Boxentafel erteilt. Kurz vor seiner Garage biegt der Pilot in den Arbeitsbereich direkt davor ab und stoppt in der auf dem Asphalt markierten Wechselzone. „Mehr als zwanzig Zentimeter zu weit davor oder zu weit dahinter darf er nicht halten, sonst verfehlt er seine Crew. Die muss sich dann neu positionieren und schon ist wertvolle Zeit verloren“, erklärt Erich Baumgärtner vom Audi Sport Team Rosberg. Baumgärtner ist beim DTM-Meisterteam der Renningenieur von Jamie Green.

Die nächsten Schritte: Das Auto steht. Mit der Luftlanze aktiviert der „Lanzer“ die im Wagenboden eingebauten Stempel. Die fahren aus und heben das Auto hoch. Parallel passiert danach auf der linken und rechten Fahrzeugseite dies: Der „Schrauber“ löst mit dem ebenfalls mit hohem Luftdruck angetriebenen Schlagschrauber die zentrale Mutter des Hinterrades. Er nimmt eine Hand vom Schlagschrauber und reißt das gelöste Rad von der Nabe. Der „Fänger“ fängt es auf, damit es nicht wegrollen kann und nicht im Weg liegen bleibt. Währenddessen hat der „Stecker“ das neue Rad mitsamt dem frischen Reifen auf die Nabe gesteckt. Der „Schrauber“ setzt die im Steckschlüsseleinsatz des Schlagschraubers verbliebene Radmutter wieder auf und zieht sie an.

Danach wechseln auf beiden Wagenseiten „Schrauber“ und „Stecker“ zum Vorderrad, wo jeweils ein neuer „Fänger“ hinzukommt. Der Tauschvorgang wiederholt sich. Sind die letzten beiden neuen Räder fest, lässt der „Lanzer“ die Stempel einfahren. Seit dem Anhalten sollten bis dahin nicht mehr als sieben Sekunden auf der Stoppuhr vergangen sein. Ansonsten war der Service zu lang und es drohen ein oder gar mehrere Positionsverluste. „Wenn das Auto wieder runtergeht, ist das für mich in der Regel das Zeichen zum losfahren“, sagt Titelverteidiger René Rast. Ausnahme: Sein Renningenieur funkt ihm „Warte!“ ins Ohr, weil die Fast Lane zum Einfädeln noch nicht frei ist. Wer trotzdem losfährt und dabei einen Wettbewerber behindert, wird bestraft wegen „unsafe release“ (unsicheres Losfahrenlassen).

Die Reihenfolge des Räderwechsels ist übrigens freigestellt in der DTM. „Wir fangen an der Hinterachse mit den Antriebsrädern an, vor allem, weil das sicherer ist. So vermeiden wir das Risiko, dass ein Mechaniker verletzt wird, falls der Fahrer zu früh die Bremse löst“, erläutert Erich Baumgärtner die Philosophie des Audi Sport Team Rosberg. Beim Audi Sport Team Abt Sportsline und beim Audi Sport Team Phoenix wechseln die Crews so: auf der zur Boxenmauer gewandten Autoseite erst vorne und dann hinten, auf der zur Box gewandten Autoseite erst hinten und dann vorne. „Auf diese Weise können unsere Mechaniker am Schlagschrauber zuerst an der Radmutter arbeiten, deren Nabe sie aus ihrer Standposition bei Ranfahren des Autos besser sehen und deshalb besser anpeilen können“, sagt Thomas Biermaier, Geschäftsführer von ABT Sportsline.

Die Fehlerquellen beim Boxenstopp: Der Fahrer verpasst die Wechselzone. Der „Schrauber“ verfehlt beim ersten Zielversuch mit dem Schlagschrauber die Radmutter. Der „Fänger“ kommt mit dem abgezogenen alten Rad ins Straucheln. Der „Stecker“ verkantet das neue Rad und muss es erneut auf die Nabe bugsieren. „Bei den gut 30 Kilogramm, die ein Reifen samt Felge wiegt, ist das trotz allen Übens schnell passiert“, weiß Erich Baumgärtner. Und besonders zeitraubend: Das Auto wird bereits abgesenkt, bevor alle neuen Räder drauf sind. Schließlich kann auch der Renningenieur patzen: Wenn er seinen Fahrer trotz Verkehrs auf der Fast Lane schon losfahren lässt. 

Reichlich Kraft, präzise Koordination und starke Nerven sind die wichtigsten Voraussetzungen für einen Job in einer Boxenstopp-Crew. „Im Winter machen wir vermehrt Krafttraining, Koordinations- und Konzentrationsübungen“, sagt Baumgärtner. In der Werkstatt des Audi Sport Team Rosberg gibt es auch einen fahrbaren Dummy eines DTM-Autos, an dem während der Saison zweimal pro Arbeitstag das Räderwechseln rennmäßig geübt wird. „Der Schlüssel zu dauerhaft erfolgreichen Boxenstopps, glaube ich, ist mentale Stärke“, sagt Ernst Moser. Der Chef des Audi Sport Team Phoenix sollte es wissen: Seit 2011 war seine Boxenstopp-Crew viermal die beste einer DTM-Saison – zuletzt drei Mal in Folge. „Die dafür nötige mentale Stärke kannst du nicht antrainieren, die wächst im Laufe der Zeit durch das lange Zusammenarbeiten derselben Mannschaft“, so Moser.

Für schnellere Boxenstopps lässt das Audi Sport Team Abt Sportsline ab der Saison 2020 seine Wechselcrew von einem ehemaligen Fußballprofi aus der Bundesliga und der deutschen U21-Nationalmannschaft trainieren: Frank Wilblishauser. Der Ex-Abwehrspieler des 1. FC Nürnberg, heute Heilpraktiker, wurde als Fitnesscoach engagiert. „Im unglaublich engen Wettbewerb der DTM sind die Boxenstopps so entscheidend, dass wir sie so professionell wie möglich üben und so fehlerfrei wie möglich absolvieren müssen“, so Thomas Biermaier.