Fertigungsinseln statt Fließband

Seit mehr als 100 Jahren gibt das Fließband in der Automobilindustrie den Takt an. Jetzt arbeitet Audi an der Vision für die Zeit nach dem Fließband und entwickelt ein völlig neues Prinzip: die Modulare Montage. Mit ihr will das Unternehmen die zunehmende Komplexität und Variantenvielfalt besser, flexibler und effizienter handhaben.

Am 14. Januar 1914 startete Henry Ford in seiner neu errichteten Fabrik „River Rouge“ im amerikanischen Dearborn die erste vollständige Fließbandfertigung der Automobil-geschichte. Seitdem bildet dieses Prinzip das Rückgrat jeder Großserienproduktion; 1925 übernahm es DKW, eine der Vorgängermarken der heutigen AUDI AG, erstmals für die Herstellung seiner Motorräder. Im Audi‑Werk Ingolstadt laufen heute die Bänder für die Modelle Audi A3, A4, A5 und Q2 – im Takt von 88 Sekunden. Alle 30 Sekunden wird auf einer der drei Linien ein Auto fertiggestellt – der Standort Ingolstadt ist die zweitgrößte Automobilfabrik in Europa.

Trotz der hohen Stückzahlen und der eingespielten Abläufe – Audi ist davon überzeugt, dass das Fließband seine beste Zeit hinter sich hat. Denn: Je weiter die Variantenvielfalt wächst, umso aufwendiger wird es, in einem starren sequenziellen Prozess die Komplexität zu beherrschen und immer neue Abläufe zu integrieren. Die festen Taktzeiten führen an vielen Stellen zu Leerlauf – etwa beim Einbau von Sonderausstattungen wie Standheizungen, die nur ein Teil der Autos erhält. Je heterogener der Modellmix auf dem Band, desto mehr summieren sich derlei Verluste.

Noch schwieriger wird es, wenn stark abweichende Varianten auf die Linie kommen. Ein Beispiel dafür ist die Montage des Audi A3 Sportback e-tron in Ingolstadt. Das Plug‑in‑Hybridmodell, das nur einen relativ kleinen Prozentsatz der Audi A3‑Gesamt-produktion ausmacht, durchläuft sieben separate Arbeitstakte, in denen es einen Großteil seiner Elektroumfänge erhält. Währenddessen schweben seine Schwestermodelle mit konventionellem Antrieb in der Gehängebahn unter der Hallendecke entlang – sie drehen eine Leerschleife; für sämtliche Autos auf dem Band wird dadurch die Zeit bis zur Fertigstellung länger.

Die Antwort von Audi auf diese Herausforderung ist ein völlig neues Konzept: die Modulare Montage. Die Idee dahinter ist eine Fertigung ohne Fließband, aufgelöst in seine einzelnen Arbeitsschritte. Die neuen Fertigungsstationen sind mit einem oder zwei Werkern besetzt. Anders als heute arbeiten sie gleichmäßig in einem kontinuierlichen Rhythmus. Denn sie müssen ihre Tätigkeiten nicht mehr an die Bandgeschwindigkeit anpassen. Und sie bewegen sich nicht mehr mit dem Band, müssen also auch keine Wege mehr zurückgehen.

Den Transport der Karosserien und der Teile zwischen den Stationen übernehmen in der Modularen Montage Fahrerlose Transportsysteme (FTS). Audi entwickelt gerade neuartige FTS, die sich selbst orientieren können und dadurch hochflexibel unterwegs sind (siehe auch eigenes Kapitel). Ihre zentimetergenaue Ortung läuft über ein Funknetz, ein zentraler Rechner steuert sie je nach Bedarf.

Der Zentralrechner beobachtet und managt alle Tätigkeiten in der Montagehalle so, dass sie reibungslos und hocheffizient verlaufen. Kleinere FTS beliefern die Stationen immer wieder just in time mit den Komponenten, die sie brauchen – von der Schraube bis zum Schiebedach. Die sogenannten Supermärkte, die heute zum Kommissionieren der Teile dienen und sich in manchen Fällen auf ausgelagerten Logistikflächen befinden, sind in dieser Form dadurch nicht mehr nötig – sie werden teilweise aufgelöst bzw. in die Montagehalle verlegt.

Anders als am Fertigungsband sind die Abläufe in der Modularen Montage zeitlich und räumlich hochflexibel. Der Einbau der Türdichtungen dauert bei einem Coupé beispielsweise halb so lange wie bei einer viertürigen Limousine. Wenn der Zentralrechner einen Stau an der Station erkennt, die ein FTS anstrebt, lotst er es in vielen Fällen an eine andere, freie Station. Denn für das Auto ist es egal, ob es zuerst seine Gepäckraumverkleidung oder die Türdichtungen erhalten hat.

Auch die Integration eines e-tron-Derivats oder einer anderen Variante stellt mit der Modularen Montage kein Problem mehr dar. Damit kann Audi schnell und effizient auf neue Trends und Wünsche am Markt sowie auf gesetzliche Vorgaben reagieren. Heute führen Modelländerungen zum Stillstand des gesamten Bands – künftig ist es möglich, die betreffenden Stationen im laufenden Betrieb zu erneuern.

In der Betrachtung des Gesamtsystems inklusive der Logistik verspricht sich Audi von der Modularen Montage einen Produktivitätsvorteil von etwa 20 Prozent plus x. Das „x“ wird umso größer, je mehr die Variantenvielfalt wächst. Die intelligenten FTS, für die sich längst auch andere Unternehmen interessieren, werden mit steigender Stückzahl preiswerter – hier liegen weitere Kostenpotenziale.

Für die Entwicklung der Modularen Montage hat sich im Frühjahr 2016 ein Start‑up-Unternehmen namens „arculus“ in einer leer stehenden alten Fabrikhalle nahe dem Ingolstädter Werkgelände etabliert; Audi ist an ihm beteiligt. Die Entscheidung, die Umsetzung der Modularen Montage in ein Start‑up auszulagern, erwies sich als goldrichtig: Binnen weniger Monate baute das kleine, engagierte Team einen ersten funktionierenden Demonstrator. Dabei löste es alle grundlegenden Fragen selbst – am Markt fand sich kein Anbieter, der die Anlagen und ihre zentrale Steuerung gleichzeitig beherrscht hätte.

Bis zur Umsetzung der Modularen Montage in der Serienproduktion wird es nicht mehr lange dauern. Zunächst setzt Audi das neue Prinzip zu Testzwecken in der Motorenproduktion im ungarischen Győr ein. Außerdem ist der Einsatz bei zwei weiteren Projekten geplant.