Chamäleonzunge und Laserscanner: das Fertigungsassistenz-Technikum

Die Abteilung „Technologieentwicklung Fertigungsassistenzsysteme“ bei Audi beschäftigt sich mit neuen Produktionstechnologien, die die Mitarbeiter im Arbeitsprozess unterstützen. In einem Technikum außerhalb des Werkgeländes treibt das Team derzeit fünf Kernthemen weiter voran. Dabei geht es um die Zusammenarbeit von Mensch und Roboter, um die Unterstützung der Mitarbeiter in der Montage, um neuartige Leichtbauroboter, um Fahrerlose Transportsysteme sowie um neue Sensorik und Anzeigekonzepte.


Flexibel verschrauben: der LBRinline
Am Montageband des Ingolstädter Audi‑Werks, über das die Autos der Audi A3- und Q2-Baureihe fahren, verlangt ein Modell ganz besondere Aufmerksamkeit: der Audi A3 Sportback e-tron. Der kompakte Plug‑in‑Hybrid weicht in einigen Punkten von seinen Schwestermodellen ab, zum Beispiel bei den Anschraubpunkten der Unterbodenverkleidung.

Aktuell setzt Audi dafür beim Audi A3 und Q2 mit konventionellem Antrieb einen – auf einen Mitarbeitervorschlag zurückgehenden – Montagewagen ein. Dieser besteht aus einem starren Rahmen mit 14 Schraubern. Mit dem sogenannten LBRinline – einem Leicht-Bau-Roboter in der Linie – haben die Ingenieure im Technikum den Montagewagen so weiterentwickelt, dass er die Herausforderung einer gestiegenen Komplexität auf neuartige, flexible Weise löst. Es handelt sich dabei um einen Montagewagen aus Aluminiumprofilen mit vier Leichtbaurobotern (LBR) auf einer mobilen Plattform. Ein Mitarbeiter koppelt den Wagen über Zapfen an die Gehängebahn an, dieser fährt dann gut 20 Sekunden lang unter dem Auto mit. Die Leichtbauroboter verschrauben die sogenannte cw‑Unterbodenverkleidung sowohl beim e-tron‑Modell als auch bei den konventionellen Modellen vollkommen selbsttätig. Ein Sicherheitssystem mit drei Laserscannern gewährleistet, dass die Roboter, von denen jeder nur 18,4 Kilogramm wiegt, nicht in direkten Kontakt mit dem Mitarbeiter kommen.

Der LBRinline ist eine von zahlreichen Einzelmaßnahmen, mit denen Audi seine Montage flexibler macht. Wenn sich der Roboter im täglichen Einsatz bewährt, lässt sich sein Prinzip auf ähnliche Arbeitsschritte übertragen. So kann man ergonomisch ungünstige Überkopfarbeiten in der Produktion auf lange Sicht vermeiden.


Vom Chamäleon inspiriert: flexibles Greifen
Viele Roboter sind auf Greifaufgaben spezialisiert. Doch von den Greifern, die heute im Einsatz sind, sind nur wenige flexibel. Das Audi‑Technikum erprobt derzeit einen Greifer, der diese Eigenschaft perfektioniert: den FlexShapeGripper der Firma Festo. Er kann Objekte greifen, halten, einem Mitarbeiter anreichen oder in einen Werkstückträger einbringen.

Das Arbeitsprinzip des FlexShapeGripper ist aus der Natur abgeleitet; es erinnert an die Zunge eines Chamäleons: Eine elastische Kappe verformt sich unter dem Einfluss von Druckluft und Federkraft. Sie stülpt sich über das Objekt, das es zu greifen gilt, und schließt es fest ein.

Anders als die heutigen Backengreifer, die nur bestimmte Komponenten greifen können, arbeitet der FlexShapeGripper hochflexibel. Er kommt sogar mit Bauteilen zurecht, die freie Formen und runde Geometrien aufweisen. Da er keine scharfen Kanten hat, eignet er sich auch ideal für den Einsatz bei empfindlichen Objekten wie Luftdüsen oder Applikationsleisten. Prinzipiell kann der Greifer in einem Bewegungsgang mehrere Teile aufnehmen, beispielsweise mehrere Muttern aus einer Schale. Mit der menschlichen Hand ist die Vielseitigkeit des Funktionsmusters zwar noch nicht vergleichbar – aber sie kommt ihr schon sehr nahe. Das eröffnet neue Perspektiven im breiten Feld der Mensch‑Roboter‑Kooperation.


Assistenz bei der Montage: motionEAP und „Schlauer Klaus“
Im Rahmen des Forschungsprojekts „motionEAP“ hat Audi einen modernen Montagetisch entwickelt. Dieser Prototyp mit computergesteuerten Assistenzfunktionen wird nicht kommerziell eingesetzt. Hinter dem Kürzel motionEAP verbirgt sich ein „System zur Effizienzsteigerung Assistenz bei Produktionsprozessen“ auf Basis von Bewegungserkennung und Projektion. Es handelt sich um ein öffentlich gefördertes Projekt, bei dem Audi mit einem Konsortium aus erfahrenen Ingenieuren und Technikern zusammenarbeitet.

Das Herzstück des motionEAP ist eine Infrarot‑Tiefenkamera – eine handelsübliche „Kinect 2“ von Microsoft. Es ist ein Beispiel dafür, wie auch die Produktionstechnik von den Neuerungen aus der Gaming‑Branche profitiert. Über dem Tisch angebracht, überprüft die Kinect Arbeitsstände des Werkstücks per Soll‑Ist‑Vergleich. Ein Projektor neben der Kamera projiziert sodann Handlungsanweisungen auf eine Teilfläche des Tisches – in Form von kurzen Texten, Videos oder auch Fotos. Sobald ein Arbeitsschritt korrekt ausgeführt ist, erscheint ein grünes Licht. Ein Rechner steuert Beamer und 3D‑Kamera.

Bereits im Serieneinsatz befindet sich ein weiteres System, es trägt den Namen „Schlauer Klaus“. Dieses hilft dem Werker in der Audi A4‑Türenvormontage bei der aufwendigen Verkabelung. Die Bandbreite umfasst mehrere Hundert unterschiedliche Varianten, in den Topversionen integriert die Türverkleidung bis zu 14 Steckverbindungen für Fensterheber, Lautsprecher, Zentralverriegelung, Spiegelverstellung und andere

Sonderausstattungen. Zwei hochauflösende 2D‑Kameras über dem Tisch überprüfen, ob alle Stecker richtig eingerastet sind. Die Arbeitsreihenfolge spielt keine Rolle.


Hand in Hand: die Mensch‑Roboter‑Kooperation
Schritt für Schritt ziehen schutzzaunlose Roboter in die Audi‑Montage ein. Sie entlasten die Mitarbeiter von ergonomisch ungünstigen oder monotonen Tätigkeiten. Mensch und Maschine arbeiten dabei in einem gemeinsamen Bereich. Dort gelten strenge Sicherheitsvorkehrungen. Das Fertigungsassistenz‑Technikum von Audi treibt die Mensch‑Roboter‑Kooperationen (MRK) kontinuierlich voran. Dabei gilt: Die Sicherheit der Mitarbeiter ist oberstes Gebot.

Audi erprobt hier verstärkt neue kraft‑ und leistungsbegrenzte Roboter, die nach direktem Kontakt sofort stoppen. Bestimmte Kräfte und Drücke dürfen dabei nicht überschritten werden, sie sind für alle Bereiche des menschlichen Körpers in einer Norm genau festgelegt. Im Fertigungsassistenz‑Technikum von Audi laufen umfangreiche Untersuchungen zu diesem Thema. Dort geht das Unternehmen unter anderem folgenden Fragen nach: Wie sichert man kantige Greifer und die Bauteile darin ab? Welche Lasten sind realisierbar? Wie schnell darf sich der Roboter bewegen, sodass die Kräfte niedrig bleiben? Und: Welche Momentensensorik ist am effektivsten?

Idealerweise müsste der Roboter samt Greifer und Bauteil permanent von einem Bereich umgeben sein, der sich situativ mit Greifer und Werkstück bewegt. Würde ein gewisser Mindestabstand zwischen System und Mitarbeiter unterschritten, hielte es vor einem Kontakt an. Auch auf diesem Gebiet forscht Audi, gemeinsam mit Lieferanten und Partnern wie dem Fraunhofer‑Institut. Für die Sensorik berücksichtigen die Audi‑Entwickler auch die Radartechnologie. Sie erkennt Bewegungen und Distanzen präzise und lässt sich dabei nicht von unterschiedlichen Lichtverhältnissen stören.


Neue Intelligenz: die Fahrerlosen Transportsysteme
Fahrerlose Transportsysteme (FTS), bestehend aus einer Leitsteuerung und einem oder mehreren Fahrerlosen Transportfahrzeugen, sind in der Automobilproduktion seit Jahrzehnten Standard. Die elektrisch angetriebenen Transportroboter befördern Teile, Behälter und in einigen Fällen – wie in den Audi Böllinger Höfen nahe des Standorts Neckarsulm – sogar ganze Karosserien; dabei folgen sie Leitdrähten oder RFID‑Chips im Hallenboden. Jetzt verleiht Audi dem FTS ein völlig neues Level an Intelligenz – damit wird es zum Rückgrat der modularen Montage der Zukunft (siehe auch eigenes Kapitel). Das Technikum Fertigungsassistenzsysteme hat dafür zwei innovative FTS‑Konzepte konzipiert und aufgebaut, sie tragen die Bezeichnung „Audi Laser Tracking System“ und „Audi AGV“ (Automated Guided Vehicle).

Beim Audi Laser Tracking System handelt es sich um ein System, das eine Gruppe von FTS erkennen und steuern kann. Ein schneller Rechner ortet diese anhand ihrer Reflektorstäbe über einen hochauflösenden Laserscanner und erteilt ihnen über ein Funknetz Manövrierbefehle. Schrittmotoren treiben alle vier Räder des FTS einzeln an, das erlaubt eine präzise Steuerung – wichtig beim Umfahren von Hindernissen und beim Andocken an die großen Transportbehälter. Die Geschwindigkeit der Transportroboter erreicht in etwa Fußgängerniveau, knapp sechs Kilometer pro Stunde.

Auf dem heutigen Entwicklungsstand kann der Zentralrechner die FTS in einem Radius von zwölf Metern dirigieren – einzeln oder in Zügen. Um eine ganze Halle abzudecken, benötigt man entweder mehrere Laserscanner oder einen Rechner mit Laserscanner als mobile Einheit, die durch die Halle fährt. Dabei lenkt er eine Gruppe von FTS. In beiden Varianten besticht die neue Technologie durch Flexibilität, Robustheit und Präzision.

Noch weiter geht die zweite FTS‑Technologie aus dem Fertigungsassistenz‑Technikum von Audi: die sogenannten Audi AGVs. Diese nutzen eine selbst entwickelte, intelligente Navigationssoftware auf Basis von Automotive Software und Automotive‑Software-Entwicklungsprozessen. Dadurch können sie völlig frei und autonom Waren vom Lager an die Montagelinie liefern. Sie erkennen komplizierte Verkehrssituationen und reagieren auf sie flexibel.

Das Navigationssystem ermöglicht dem Audi AGV autonomes Fahren auf einer definierten Strecke, die im Vorfeld am Rechner konzipiert und simuliert worden ist; alternativ kann das AGV einen Fahrweg auf einer manuell geführten Fahrt lernen und abspeichern. Auf Basis dieser Karte bewegt es sich daraufhin innerhalb seines Radius frei – nach den Prinzipien des Machine Learning sucht es sich dabei stets den günstigsten Pfad.

Das Audi AGV, intern auch „Paula“ genannt, verfügt über drei Onboard‑Laserscanner – zwei an der Front und einen am Heck. Sie ermöglichen ihm Orientierung und sorgen zudem dafür, dass es nicht mit Personen zusammenstoßen kann. Einer der Frontscanner ist nach oben geneigt, sodass er von der Decke hängende Objekte erkennen kann.

Die Sensoren dienen auch zur Aufnahme von Messdaten – der Rechner des AGV gleicht diese daraufhin mit den hinterlegten Kartendaten ab. Zusätzlich gleicht die Navigationssoftware die Messdaten der Laserscanner mit den Umdrehungen der Räder ab, das macht eine genaue Lokalisierung möglich.

Die Fahrstrategie des Audi AGV ist defensiv. Es erkennt einen Mitarbeiter oder eine Elektro‑Zugmaschine, die den gleichen Weg kreuzen. Sie erhalten immer Vorrang. Das Tempo ist auf 4,2 Kilometer pro Stunde beschränkt. Alle Verzögerungen erfolgen weich und energieeffizient – bei ihrer Berechnung nutzten die Entwickler ähnliche Algorithmen, wie sie zur Steuerung der adaptive cruise control (ACC) im Auto dienen.

Mit seinen Laserscannern erkennt das AGV den Werkstück‑Trailer anhand seiner Konturen. Es fährt ihn millimetergenau an, selbst wenn er nicht exakt auf seiner vorgesehenen Position steht. Das Einparken über der Ladeplatte geschieht mit der gleichen Präzision. Ein Touch‑Display an der Front, ein umfangreiches optisches Signalkonzept und eine Sprachausgabe ermöglichen die Kommunikation und Interaktion mit der Umwelt.

Die Navigationsentwicklung des AGV im Audi‑Technikum Fertigungsassistenzsysteme ist mittlerweile beim dritten, seriennahen Prototyp angelangt. Wie seine Vorgänger ist auch er in allen Bereichen – die Software eingeschlossen – eine komplette Eigenentwicklung von Audi. Derzeit absolviert das Audi AGV ausgedehnte Erprobungsfahrten in der Audi A3‑/Q2‑Montage im Werk Ingolstadt.

Diese FTS‑Technologie hat großes Potenzial: Indem man die Navigationsdaten mehrerer Einzelfahrzeuge mit einem übergreifenden Flottenmanager vernetzt, entsteht ein intelligentes Gesamtsystem.